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Es reicht

Wie die Corona-Maßnahmen zunehmend die Wesensgehalts­garantie unterlaufen

Benjamin Stibi, 11.01.2021

Seit über zwei Monaten befinden sich die Deutschen wieder in einem Lockdown der ein oder anderen Art; ein Ende ist nicht in Sicht. Nach Art. 19 II GG darf in keinem Falle ein Grundrecht in seinem „Wesensgehalt“ angetastet werden. Die ansteigende Dauer und Intensität der Maßnahmen drohen allerdings eben diesen Kernbestand bei manchen Grundrechten zu erodieren.

Das Wesen des Wesens

Unsere Verfassung kennt zahlreiche Grundrechtsschranken, die dem Staat einen Eingriff in den Schutzbereich eines Grundrechts erlauben. Art. 19 II GG als materiale Schranken-Schranke soll verhindern, dass die Grundrechte dadurch inhaltlich ausgehöhlt werden, und sichert so ihren faktischen Bestand. Nach herrschender Meinung sind alle (auch die vorbehaltlos gewährten) Grundrechte und grundrechtsgleichen Rechte davon umfasst. Nur Gleichheitsrechte werden in der Regel ausgenommen, da sie ihr Wesenskriterium bereits im allgemeinen Verbot sachwidriger Ungleich­behandlungen tragen. Dem Sinn nach ist Art. 19 II GG vor allem an den einfachen parlamentarischen Gesetzgeber adressiert, kann aber auch auf die anderen Gewalten ausgeweitet werden („in keinem Falle“). Maßgeblich ist, inwieweit ihr grundrechtsrelevantes Handeln gesetzlich vorgezeichnet ist oder ob von Exekutive und Judikative eigenständige Gefahren für den Wesensgehalt ausgehen. Letzteres wird vor allem der Fall sein, wenn ihnen eigene Entscheidungsspielräume zugestanden werden. (vgl. Dreier/Dreier GG Art. 19 Abs. 2 Rn. 7 ff.; Maunz/Dürig/Remmert GG Art. 19 Abs. 2 Rn. 26 f.) Die weiten Formulierungen der §§ 28, 28a, 32 IfSG lassen den Landesregierungen viel Raum zur Fantasie, was sich auch an der Verschiedenartigkeit der daraus resultierenden Corona-Verordnungen von Bundesland zu Bundesland zeigt.

Worin liegt nun das „Wesen“ eines Grundrechts? Einigkeit besteht darüber, dass es für jedes Grundrecht eine gesonderte Bestimmung braucht (vgl. BVerfGE 22, 180, 219). Danach gehen die Meinungen auseinander, ob Art. 19 II GG die Grundrechtsbestimmungen nur als objektive Normen oder auch als subjektive Grundrechtssicherungen schützt (Typischer Problemfall: Finaler Rettungsschuss) und ob der Wesensgehalt eines Grundrechts eine absolute Schranke darstellt oder nur relativen, mit kollidierenden Interessen abwägungsfähigen Schutz gewährt. Als gemeinsamer Nenner lassen sich folgende Ziele der Wesensgehalts­garantie festhalten:
1. Wahrung der „Grundidentität“ eines Grundrechts
2. Wahrung einer effektiven Abwehrmöglichkeit:
Der Freiheitsgehalt eines Grundrechts muss sich trotz seiner verfassungsrechtlichen Abhängigkeiten von der einfachen Rechtsordnung und den Rechtsanwendern beiden gegenüber hinreichend durchsetzen können (vgl. Maunz/Dürig/Remmert GG Art. 19 Abs. 2 Rn. 41).
3. Wahrung seiner gesamtgesellschaftlichen Funktion
Bei Verstößen gegen Art. 19 II GG wird immer das von dem Eingriff betroffene Grundrecht verletzt. Der Eingriff ist daher verfassungswidrig, die entsprechende Norm nichtig. (vgl. Sachs/Sachs GG Art. 19 Rn. 47)

Beeinträchtigung des Wesensgehalts als Intensitätsskala

Die Corona-Lockdowns werden wiederholt als die „schwerwiegendsten Grundrechtseingriffe in der Geschichte der Bundesrepublik“ bezeichnet. Damit will man zum Ausdruck bringen, dass noch nie zuvor so viele Menschen gleichzeitig so sehr in der Ausübung ihrer Grundrechte beeinträchtigt wurden. Es geht also nicht nur um individuell-subjektive Rechte, sondern die Eingriffe haben in der Allgemeinheit ein solches Ausmaß ausgenommen, dass die gesamtgesellschaftliche Funktion, Durchsetzungsfähigkeit und Identität der objektiven Grundrechtsnormen in Gefahr sind. Deutlich wird das an folgenden Beispielen:

Zum Jahreswechsel herrschte bundesweit ein Versammlungsverbot. So galt in Bayern nach § 7 III der 11. BayIfSMV:
„Abweichend von Abs. 1 und 2 [Anm.: Allgemeine Corona-Regelungen für Versammlungen nach Art. 8 GG] sind Versammlungen am 31. Dezember 2020 und 1. Januar 2021 untersagt.“
Der Versammlungsfreiheit nach Art. 8 I GG kommt eine grundlegende Bedeutung für das demokratische und freiheitliche Gemeinwesen zu, denn neben Wahlen bilden Demonstrationen für die Bürger*innen die effektivste Möglichkeit, Einfluss auf den Kurs der Politik zu nehmen. Eibenstein beschreibt sie zutreffend als „soziales, interaktives und vom Geist der Demokratie lebendes Grundrecht“, als „Lebenselixier einer vom Volk ausgehenden Staatsgewalt“ und gerade in Corona-Zeiten als wertvolles „Kommunikationsrecht“ für die von den Maßnahmen Betroffenen (vgl. NVwZ 2020, 1812 f.). Art. 8 I GG gewährleistet nicht nur die Freiheit, an einer öffentlichen Versammlung teilzunehmen oder ihr fernzubleiben, sondern auch ein Selbstbestimmungs­recht des Veranstalters über die Modalitäten wie den Zeitpunkt. Mangels Ausnahme- oder räumlicher Ausweichmöglichkeit ist daher unerheblich, dass das Verbot „nur“ für zwei Tage galt. Zu keinem Zeitpunkt dürfen im gesamten Geltungsbereich des Grundgesetzes politische Versammlungen pauschal untersagt sein. Das ist mit dem Wesensgehalt des Grundrechts unvereinbar (vgl. auch Fährmann/Aden/Arzt; WD 3 - 3000 - 094/20 S. 7; a. A. OVG Weimar v. 10.04.2020, BeckRS 2020, 6395 Rn. 30). Zurecht hat das OVG NRW mit Beschluss vom 30.12.2020 eine identische Regelung außer Vollzug gesetzt (13 B 2070/20.NE). Allerdings war dafür laut Begründung die mangelnde Erforderlichkeit ausschlaggebend, auch wenn die Erheblichkeit des Grundrechtseingriffs betont wurde.

Zwei Grundrechte, die unter den Ausgangsbeschränkungen besonders leiden, sind das Recht auf Freiheit der Person (Art. 2 II 2 GG) und das Recht auf Freizügigkeit (Art. 11 I GG). Hier ist die Berührung des Wesensgehalts nicht so offensichtlich wie bei der Versammlungsfreiheit. Das Bundesverfassungsgericht stellt in diesen Fällen eher auf die institutionelle Funktion der Wesensgehaltsgarantie ab: Bei einem Eingriff in die Freizügigkeit nach Art. 11 II GG, die für den Einzelnen im Totalentzug seiner Rechtsposition resultieren kann, ist für den Erhalt ihres Wesensgehalts entscheidend, welche Bedeutung das Grundrecht nach der getroffenen Einschränkung noch für das soziale Leben im Ganzen besitzt (vgl. BVerfGE 2, 266, 285). Auch die lebenslange Freiheitsstrafe (vgl. BVerfGE 45, 187, 270 f.) sowie die Sicherheitsverwahrung (vgl. BVerfGE 109, 133, 156) sind demnach mit Art. 19 II GG verträglich. Eine allgemeine Ausgangsbeschränkung unter Tags, eine zusätzliche Ausgangssperre in der Nacht, Beherbergungsverbote im ganzen Bundesgebiet, nun auch noch der 15-Kilometer-Radius und optionale Einreiseverbote in Hotspots: Seit Monaten wird für die Gesellschaft immer selbstverständlicher, sich möglichst nicht aus dem eigenen Haus zu bewegen. Der Wesensgehalt gerät durch das bloße Andauern der Maßnahmen zunehmend näher. Dabei wurde die Freiheit der Person von den Verfassungsgeber*innen als so hohes Gut betrachtet, dass sie ihr mit dem Art. 104 GG sogar eine eigene Verfahrensvorschrift gewidmet haben. Die Grenze zwischen einer Freiheitsbeschränkung und einer Freiheitsentziehung, der intensivsten aller vom Grundgesetz vorgesehenen Eingriffsmöglichkeiten in die persönliche Bewegungsfreiheit, verschwimmt momentan immer mehr (vgl. Schmitt) – ein weiteres Indiz für das Ansetzen des Art. 19 II GG.

Noch abstrakter wird es, wenn man sich fragt, ob die Maßnahmen schon den Wesensgehalt des Allgemeinen Persönlichkeitsrechts (APR) bzw. des Rechts auf informationelle Selbstbestimmung (Art. 2 I i. V. m. Art. 1 I GG) gefährden. Das APR sichert jedem Einzelnen einen autonomen Bereich privater Lebensgestaltung, in dem er seine Individualität entwickeln und wahren kann. Diese Gewährleistung eines unantastbaren Minimums an persönlicher Freiheit schützt einen „Wesensgehalt der Wesensgehalte“ sämtlicher Individualfreiheiten bzw. die Selbstbestimmung als solche (vgl. BeckOK GG/Enders Art. 19 Rn. 28). Zu diesem Wesenskern zählt nach Ansicht des Bundesverfassungsgerichts auch die „Freiheit zur Krankheit“ (vgl. BVerfGE 142, 313, 339 f.). Nach dem Recht auf informationelle Selbstbestimmung muss jeder die Möglichkeit haben, grundsätzlich selbst bestimmen zu können, wann und innerhalb welcher Grenzen persönliche Lebens­sachverhalte offenbart werden. Dazu gehören auch Informationen zu den eigenen persönlichen Verhältnissen. Durch Versammlungsverbote, die Auferlegung von allgemeinen Kontaktbeschränkungen, die Pflicht zur Glaubhaftmachung von „triftigen“ Gründen und Ausfüllung von Kontaktlisten, die nächtliche Kontaktsperre etc. greift der Staat in nie dagewesenem Umfang in das Privatleben der Deutschen ein. Die Gestaltung von mindestens einem Drittel des Tages wird von der Regierung vorgegeben; die Anzahl der erlaubten Kontakte wurde auf das absolute Minimum (eine weitere Person) reduziert, was (anders als von der Politik behauptet) auch nicht wesentlich durch die Möglichkeit digitaler Zusammen­künfte gemildert wird. Durch Polizeikontrollen kann der Staat zudem Schlussfolgerungen über das Sexualleben, die sexuelle Orientierung und den Beziehungsstatus ziehen. Wer hier den Wesensbereich noch nicht eröffnet sieht, sollte sich wie bei den anderen Beispielen überlegen, wie viele Freiheiten dann seiner Meinung nach noch geopfert werden „dürften“ bzw. überhaupt könnten.

Eine letzte Grenze

Auch wenn Art. 19 II GG viele offene Fragen (vor allem philosophischer Art) hinterlässt, sollte seine Intention inzwischen hinreichend deutlich geworden sein: die Sicherung der Grundrechtssubstanz vor einem unbeschränkten, ohne eine derartige Sicherungszone zur vollständigen Entleerung und praktischen Auslöschung des Grundrechts führenden Zugriff des einfachen Gesetzgebers. Eine gewisse Nähe zum Verhältnismäßigkeitsprinzip und Übermaßverbot liegt in der Natur der Sache. In der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts hat die Wesensgehaltsgarantie deswegen bisher kaum eigenständige Bedeutung erlangt; das später entwickelte, mehrgliederige Verhältnismäßigkeitsprinzip hat sich als das differenziertere Instrument erwiesen. Der normativen Beseitigung im Sinne einer Streichung der Grundrechte durch den einfachen Gesetzgeber beugt bereits Art. 79 GG vor. Dabei hat Art. 19 II GG durchaus einen praktischen Mehrwert, wenn man ihn mit dem Verhältnismäßigkeitsprinzip in ein Stufenmodell einordnet: Bereits geringfügige Eingriffe können unverhältnismäßig sein, ohne auch nur in die Nähe des Wesensgehaltes zu gelangen. Der Verhältnismäßigkeits­grundsatz dient somit als weit vorgeschobene Sicherheitslinie, während Art. 19 II GG dem Gesetzgeber bei der ihm eingeräumten Einschränkungs­möglichkeit grundrechtlicher Freiheit eine letzte Grenze setzt, die selbst schwerwiegende Interessen der Allgemeinheit nicht aufweichen können. (vgl. Dreier/Dreier GG Art. 19 Abs. 2 Rn. 7, 18)

Mit diesem Verständnis könnte die Wesensgehaltsgarantie den Gerichten eine zusätzliche Orientierungshilfe bei der Bewertung der Verfassungs­mäßigkeit der Corona-Maßnahmen bieten. Denn die bisherigen Entscheidungsfindungsmethoden im einstweiligen Rechtsschutzverfahren kommen in Zeiten einer Pandemie an ihre Grenzen. Eine reine Folgenabwägung muss – selbst bei noch so schwerwiegenden Grundrechts­eingriffen – fast immer zugunsten der Regierung ausfallen, da jede freiheitseinschränkende Maßnahme irgendwie Neuinfektionen verhindert, die durch eine vorläufige Außervollzugsetzung wieder entstehen würden. Sofern eine summarische Prüfung der Erfolgsaussichten in der Hauptsache stattfindet, lässt sich aufgrund des erheblichen Gewichts der staatlichen Pflicht zum Gesundheits­schutz (Art. 2 II GG) das Ergebnis der Verhältnismäßigkeits­prüfung selten eindeutig absehen. Wenn man aber bewusst prüft, ob der Wesensgehalt eines Grundrechts betroffen ist, könnte dies als weiteres Indiz für die offensichtliche Begründetheit des Eilantrags dienen. Auch in der Hauptsache würde eine verstärkte Beachtung des Art. 19 II GG unterbinden, dass man bei der doch eher subjektiven Abwägung zweier gewichtiger kollidierender Interessen versehentlich eine rote Linie überschreitet.

Weiterhin könnte die Wesensgehalts­garantie dem ausschweifenden öffentlichen Diskurs über die richtige Intensität der Corona-Maßnahmen einen Rahmen geben. Denn wenn lautstark vor der „Abschaffung von Grundrechten“ gewarnt wird, ist damit i. d. R. nichts anderes als ihre inhaltliche Aushöhlung gemeint. Man braucht kein Jurist zu sein, um zu erkennen, dass beispielsweise die nächtliche Ausgangssperre in ihrer aktuellen Ausgestaltung und der 15-Kilometer-Radius auf die Grundrechte sehr hohe, wenn auch auf den Infektionsschutz eher geringe Wirkung entfalten. Wenn die Politik öfter aussprechen würde, dass es die absolute Grenze des Art. 19 II GG gibt und man diese anerkennt, würde das die Bevölkerung beruhigen, verlorenes Vertrauen wiederherstellen und zugleich übermotivierte Ministerpräsidenten, die immer noch „noch mehr“ verschärfen möchten, einbremsen.

Dafür wäre auch eine Hauptsache­entscheidung des Bundesverfassungs­gerichts zu den schwerwiegendsten Maßnahmen dringend nötig. Das Schweigen aus Karlsruhe wird immer ohren­betäubender. Dabei braucht es im oberverwaltungsrechtlichen Flickenteppich zu Corona-Deutschland endlich Rechtssicherheit. Nachdem das Bundesverfassungsgericht selbst zu Beginn der COVID-19-Pandemie betont hat, dass die Einschränkungen zur Wahrung der Verfassungsmäßigkeit befristet sein müssen, wird es sich, je länger es wartet, desto intensiver mit Art. 19 II GG auseinandersetzen müssen. Denn irgendwo muss eine Grenze gezogen werden.

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