Feuerwerk in München und Blaulicht

Zweierlei Maß

„Corona-Spaziergänge“ und Silvester in München

Benjamin Stibi, 06.01.2022

Der Münchner Stachus ist trotz der späten Uhrzeit voller Menschen. Sie stehen dicht an dicht, ohne Maske, pfeifen und grölen. Ein weiterer Trupp von gut hundert jungen Leuten nähert sich dem Platz schnellen Schrittes aus der Fußgängerzone. Ein lautes Zischen, dann explodiert das Feuerwerk und beleuchtet den Nachthimmel und die Polizisten, die am Rande der jubelnden Menschenmenge stehen: Das neue Jahr hat begonnen.

An den Mittwochabenden davor und danach ist die Szene sehr ähnlich: verbotene Ansammlungen, keine Beachtung der Hygieneregeln, großes Polizeiaufgebot. Doch bei den „Corona-Spaziergängen“ greifen die Beamten rabiat durch: Polizeiketten verhindern unter Einsatz von Schlagstöcken und Pfefferspray einen Zug Richtung Stachus, Protestler und Passanten werden gleichermaßen stundenlang in der Kälte festgehalten, unzählige Anzeigen wegen Verstoßes gegen Infektionsschutz- und Versammlungsrecht verteilt.

Am Silvesterabend haben die Beamten aber ihre Visiere zuhause gelassen, viele tragen nicht einmal eine FFP2-Maske, sondern ziehen bloß ihre schwarzen Gesichtstücher hoch. Ab und zu leuchten sie mit einer Kamera in die Menge oder stellen sich in einem Bündel neben eine besonders feierwütige Gruppe, um Präsenz zu zeigen. Der ein oder andere Polizist schaut eher amüsiert dem ausgelassenen Treiben und den spontanen Tanz-Einlagen zu. Auf der anderen Seite der Straße werden Böller aus Flaschen geschossen. Die Stadt schreibt auf ihrer Webseite: „In München war 2021 das Abbrennen von Silvesterknallern und Böllern am gesamten 31. Dezember und am gesamten 1. Januar in der Umweltzone innerhalb des Mittleren Rings untersagt – auch auf dort befindlichen privaten Grundstücken.“

Die Polizei weist eine Gruppe Teenager an, die Musik auszumachen und ihre „Ansammlung“ zu beenden. Die kommen dem mürrisch nach, haben dafür aber kein Verständnis – hier seien doch überall Menschen, die Party machen. Teilweise hagelt es Beleidigungen gegen die Beamten, vereinzelt verteilen diese Platzverweise. Mehrere Einsatzkräfte drücken eine Person gegen die Wand des McDonald’s-Restaurants, daneben auf dem Boden liegt eine zerbrochene Flasche. Auch ein scheinbarer Taschendieb wird durchsucht und abgeführt. Erst gegen 1 Uhr löst sich die Menge auf – weniger durch Zutun der Polizisten und mehr, um im Privatbereich weiter das neue Jahr einklingen zu lassen. Insgesamt wurden zwischen 19 Uhr und 07 Uhr laut Pressestelle dreizehn Verstöße gegen Infektionsschutzregelungen festgestellt. Am 05.01.2022 gab es innerhalb von vier Stunden über 1200 Anzeigen mit Bezug zu Corona und dem Versammlungsverbot.

Aus dem Umfeld der Polizei heißt es, die Kollegen hätten in der Silvesternacht sicherlich das ein oder andere Auge zugedrückt. Auf Nachfrage bittet die Polizeipressestelle „ganz klar einen Passanten, der eventuell nur feiert oder unterwegs ist von A nach B von einem Versammlungsteilnehmer zu unterscheiden“. Die angezeigten Menschenansammlungen am Mittwoch zuvor wären Demonstranten gewesen, die gegen ein städtisches Versammlungsverbot verstoßen haben. „Hätte es solche Ansammlungen mit Versammlungscharakter in der Silvesternacht gegeben, wären diese auch angehalten und angezeigt worden. Im Alltag versuchen wir jedoch zuerst kommunikativ auf die Menschen einzuwirken (Im Übrigen tun wir das auch bei sich anbahnenden verbotenen Versammlungen). Darauf reagieren die meisten Bürgerinnen und Bürger, weshalb es zu weniger Anzeigen kommt.“

Die tatsächliche Rechtslage ist allerdings etwas anders: Am 29.12.2021 sowie am 05.01.2022 galt eine Allgemeinverfügung der Stadt München, die alle unangemeldeten „stationären oder sich fortbewegenden Versammlungen im Zusammenhang mit Protesten gegen Corona-Maßnahmen“ untersagte. In der Silvesternacht waren laut der aktuellen bayernweiten Corona-Verordnung dagegen „Ansammlungen von mehr als zehn Personen auf [bestimmten von der jeweiligen Kreisverwaltungsbehörde festgelegten] öffentlichen publikumsträchtigen Plätzen und in ihrem weiterem Umfeld“ nicht gestattet. Darüber hinausgehende Menschenansammlungen hätten sich in diesem Bereich unverzüglich zu zerstreuen.

Genau genommen war das Verbot in der Silvesternacht also schärfer als an den Demo-Abenden, da es konkludent mit den geltenden Kontaktbeschränkungen auch für Geimpfte schon bloße Ansammlungen betraf. Das entspricht auch unserem Grundgesetz, das durch die Garantie der Versammlungsfreiheit in Artikel 8 zum Ausdruck bringt, dass es Demonstrationen, egal ob angemeldet oder nicht, auch für wesentlich schützenswerter hält als ein öffentliches Besäufnis zum Jahreswechsel, das keine politische Botschaft enthält.

Ginge es der Polizei bzw. der dahinterstehenden Politik wirklich um Infektionsschutz, hätte sie daher gerade in der Silvesternacht mit Fug und Recht hart durchgreifen können. Das Virus unterscheidet nicht, ob ein Demonstrant „Friede, Freiheit, Selbstbestimmung“ brüllt oder Angetrunkene sich die Seele aus dem Leib singen und eine Kippe nach der nächsten rauchen. War es nicht der bayerische Ministerpräsident, der alkoholbedingt enthemmte Treffen für so gefährlich hielt, dass er vor einem Jahr sogar ein landesweites Alkoholverbot im öffentlichen Raum einführen wollte und damit krachend vor dem Verwaltungsgerichtshof gescheitert ist?